Der in Norwegen geborene Isak Aasvestad ist seit 2020 Landesrabbiner des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein.
Rudi: Lieber Isak, Wissenschaftler*innen gehen davon aus, dass Menschen etwa 20.000 Entscheidungen täglich treffen. Von der Wahl des T-Shirts am Morgen, über die Frage, ob ich – weil es heute regnet – mit dem Auto statt mit dem Fahrrad zur Arbeit fahre oder auch ob ich dem Obdachlosen vor dem Supermarkt Geld, Nahrung oder gar nichts geben soll. Gibt es für dich so etwas wie große oder kleine, leichte oder schwierigere Entscheidungen?
Aasvestad: Ja, natürlich ist es ein Unterschied, welches T-Shirt ich anziehe, welchen Ausbildungsweg ich einschlage oder gar, ob ich meine eigenen Wünsche oder Bedürfnisse für jemand anderes aufgebe.
Rudi: Was macht eine Entscheidung „groß“ oder „schwierig“? Hast du dafür so etwas wie Kriterien?
Aasvestad: Allgemeingültige Kriterien zu benennen, ist schwierig.
Große oder schwierige Entscheidungen haben, so denkt man zumindest, auch große Auswirkungen - auf einen selbst, aber auch auf andere. Das Komplizierte ist nur, dass man die Auswirkungen von Entscheidungen nicht immer gleich sieht oder gar im Vorwege einschätzen kann. Und Entscheidungen, die sich heute vielleicht leicht anfühlen, können schon morgen schwer wiegen.
Rudi: Welches waren schwierige Entscheidungen in deinem Leben?
Aasvestad: Ich habe ja bereits in vielen verschiedenen Ländern gelebt. Das bedeutete, ins Ungewisse zu gehen. Und das Gefühl war auch hier, dass meine Schritte für mich große Auswirkungen haben könnten, gute oder schlechte. Doch im Norwegischen gibt es ein Sprichwort: Den som intet våger, intet vinner. Im Deutschen heißt dies: Wer nichts wagt, der nichts gewinnt. Und ich denke, es ist hilfreich, sich vor schwierigen Entscheidungen zu fragen, was denn wirklich Schlimmes passieren kann. Oftmals fühlen sich Konsequenzen von Entscheidungen doch viel größer an, als sie wirklich sind.
Rudi: Was sind für dich typische ethische oder moralische Entscheidungen?
Aasvestad: Das sind Entscheidungen, von denen ich denke, dass sie größere Auswirkungen auf mein Leben und das Leben anderer haben. Wenn ich zum Beispiel müde bin, habe ich Lust, mich auszuruhen. Doch damit schiebe ich Arbeit auf andere. Ich stelle gegebenenfalls meine Bedürfnisse über die anderer. Ist das okay?
Von Rabbi Hillel sind folgende Sätze überliefert: „Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich? Und wenn ich für mich allein bin, was bin ich? Und wenn nicht jetzt, wann denn?“ Aber auch: „Es obliegt dir nicht, die Arbeit zu vollenden, du bist aber auch nicht soweit frei, dich ihrer zu entledigen.“ Ich denke, es geht bei ethischen Entscheidungen darum, ein Gleichgewicht zu finden zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Bedürfnissen anderer. Und es ist wichtig, auch sich selbst zu erlauben, schwach zu sein und zu sagen: Ich bin der, der Hilfe braucht.
Rudi: Um sich in all diesen schwierigen Situationen entscheiden zu können und sich im Idealfall gut damit zu fühlen, braucht der Menschen so etwas wie einen ethischen Kompass, der einen durch das Dickicht der Entscheidungssituationen führt. Aus welchen Bauteilen setzt sich im Moment dein persönlicher ethischer Kompass zusammen? Welches sind deine Herzensquellen?
Aasvestad: Als religiöser jüdischer Mensch ist eines meiner Bauteile natürlich die Tora. Diese besteht aus zwei Teilen, der Halacha - dem Gesetz - und der Aggada - den Erzählungen. Halacha hat seinen Ursprung übrigens im Wort gehen und meint so etwas wie Wegweiser. Und zur Bedeutung der Gebote gibt es im Talmud eine schöne kleine Erzählung:
„Rabbi Šimlaj trug vor: Sechshundertdreizehn Vorschriften sind Moše überliefert worden; dreihundertfünfundsechzig [Verbote], entsprechend den Tagen des Sonnenjahres, und zweihundertachtundvierzig [Gebote], entsprechend den Gliedern des Menschen.
Hierauf kam David und brachte sie auf elf, denn es heißt: Ein Psalm Davids. Herr, wer darf in deinem Zelte wohnen, wer darf auf deinem heiligen Berge ruhen? Wer makellos wandelt und recht tut und vom Herzen Wahrheit redet, auf seiner Zunge nicht Verleumdung hegt, seinem Nächsten nichts Böses zufügt und nicht Schmach auf seinen Freund lädt; dem der Verworfene als verächtlich gilt, während er, die den Herrn fürchten, in Ehren hält; der, wenn er zu seinem Schaden geschworen hat, es doch nicht abändert; der sein Geld nicht um Zins gibt und nicht Bestechung gegen den Unschuldigen annimmt. Wer solches tut, wird nimmermehr wanken. (Psalm 15,1–5.)
Hierauf kam Ješa͑ja und brachte sie auf sechs, denn es heißt: Wer in Rechtschaffenheit wandelt, und Redlichkeit redet, wer Gewinn durch Erpressung verschmäht, wer Bestechung mit den Händen abwehrt, wer sein Ohr verstopft, um nicht Mordpläne zu hören, und seine Augen verschließt, um nicht das Böse zu schauen. (Jesaja 33,15)
Hierauf kam Mikha und brachte sie auf drei, denn es heißt: Er hat dir gesagt, o Mensch, was frommt! Und was fordert der Herr von dir, außer Gerechtigkeit zu tun, sich der Liebe zu befleißigen und demütig zu wandeln vor deinem Gott. (Micha 6,8)
Hierauf kam Ješa͑ja abermals und brachte sie auf zwei, denn es heißt: So spricht der Herr: Wahret das Recht und übt Gerechtigkeit. (Jesaja 56,1) Alsdann kam A͑mos und brachte sie auf eines, denn es heißt :So spricht der Herr zum Hause Jisraél: Forscht nach mir, damit ihr am Leben bleibt. (Am. 5,4) R. Naḥman b. Jiçḥaq wandte ein: Vielleicht ist unter forschen zu verstehen, nach der ganzen Tora!? – Vielmehr, hierauf kam Ḥabaquq und brachte sie auf eines, denn es heißt: der Fromme wird durch seinen Glauben leben. (Habakuk 2,4)“
Gebote scheinen auf den ersten Blick eindeutig und klar zu sein. Doch das sind sie für mich nicht, denn sie sind nicht loszulösen von Raum und Zeit, in denen sie entstanden sind und aufgeschrieben wurden. Das heißt, ich muss die Werte hinter den Geboten entdecken. Die wichtigsten Werte, die ich aus den Geboten der Tora ableite, sind Gerechtigkeit und Empathie. Empathie bedeutet jedoch nicht, dass das Mitgefühl so groß wird, dass man die Gerechtigkeit vergisst. Vielmehr sollte man die beiden Werte nicht gegeneinander ausspielen. Man sollte Empathie nicht über Gerechtigkeit stellen und auch nicht andersherum. Das ist natürlich nicht immer einfach. Helfen kann vielleicht Demut. Denn wenn ich demütig vor Gott und den Menschen stehe, dann denke ich automatisch: Es könnte auch sein, dass mein Gegner Recht hat.
Rudi: Welche Erzählung der Tora ist dir denn besonders wichtig?
Aasvestad: Wenn man Entscheidungen trifft, sollte man neben den Geboten auch menschliche Erfahrungen in die Entscheidungen einbeziehen – die eigenen und die anderer. Und die Erzählungen der Tora bewahren die Erfahrungen ganzer Generationen auf – gute, aber auch Fehler, die Menschen gemacht haben.
Eine Erzählung, die für mich wichtige Erfahrungen und Werte beinhaltet, ist die Erzählung von den hebräischen Hebammen Schifra und Pua, die durch ihren Mut, ihren Widerstand und Zivilcourage einen Genozid verhindern [zum Nachlesen: 2. Mose 1, 15-21]. Hebammen hatten sicherlich keinen hohen Stand in der damaligen Gesellschaft. Und doch werden sie in der Tora sogar namentlich genannt.
Rudi: In welchen Situationen wünschst du dir heute, dass Schifra und Pua laut rufen?
Aasvestad: Ach, das ist schwierig. Und doch erinnern mich die Mütter russischer Soldaten auf den Straßen Moskaus an die beiden Frauen. Mütter, die laut rufen, dass ihre Söhne nicht dem Krieg geopfert werden, und die dabei ihr Leben und ihre Freiheit riskieren.
Außerdem muss ich an die Frauen in der Rosenstraße in Berlin denken: 600 Mütter und Ehefrauen jüdischer Zwangsarbeiter protestierten im Februar 1943 eine Woche lang unter größter Gefahr dafür, mit ihren Söhnen und Männern, die von der Gestapo inhaftiert worden waren, sprechen zu können. In den nächsten Wochen wurden alle Inhaftierten sogar freigelassen.
Rudi: Welche Bauteile enthält dein Kompass noch?
Aasvestad: Wichtig sind mir wie gesagt Erfahrungen. Dazu zählen auch die Erfahrungen von Menschen in meinem persönlichen Umfeld, weniger die von prominenten Persönlichkeiten. Es gibt eine jüdische Redensart, die besagt, dass Menschen allein dadurch Weisheit erlangen, dass sie bereit sind, anderen zuzuhören. Das hebräische Wort „Shalom Bayit“ bedeutet so viel wie „Hausfrieden“ und meint die Bereitschaft, nicht rechthaberisch zu sein. In meinen Augen ist es wichtig, Kompromisse zu schließen. Und echte Kompromisse sind oft schmerzhaft. Erst wenn ich bereit bin, auf etwas zu verzichten, dass mir sehr wertvoll ist, bin ich wirklich kompromissbereit.
Rudi: Was denkst du: Braucht eine Religionsgemeinschaft oder eine Gesellschaft eigentlich einen einheitlichen Bauplan für einen ethischen Kompass?
Aasvestad: Ich denke, die einzelnen Bestandteile eines Kompasses können durchaus verschieden sein. Doch es braucht eine gemeinsame Idee. Im Sport würde man sagen, es braucht gemeinsame Spielregeln. Und diese Spielregeln beinhalten für mich Meinungsfreiheit, Toleranz, Gewaltverzicht und Verzicht auf Zwang. Das bedeutet nicht, dass mir Meinungen gleich wertvoll sind. Überhaupt nicht. Doch diese gemeinsamen Spielregeln haben zur Folge, dass ich auf die Meinung anderer niemals mit Gewalt reagiere.
Rudi: Hast du zum Abschluss noch einen Tipp für die Rudis?
Aasvestad: Ich würde ihnen empfehlen, vielleicht erst mit Jasmin zu reden und nicht sofort mit ihrem Lehrer. Vielleicht kann man mit Jasmin darüber sprechen, welche Auswirkungen ihr Handeln hat, aber auch welche Auswirkungen die Entscheidung der Rudis hätte. Würde die Schule Jasmin vielleicht durch die Prüfung fallen lassen oder gar von der Schule verweisen, wenn man sie verrät? Wäre das noch verhältnismäßig? Und welche Auswirkungen hätte es auf Prüfungen oder das vertrauensvolle Verhältnis von Schüler*innen und Lehrer*innen, wenn Betrug ungestraft bliebe? Schwierig… Im Talmud wird den Menschen übrigens geraten: Richte deinen Nächsten nicht, bevor du dich in seine Lage versetzt hast!
Die Fragen stellte Nicole Hansen im August 2023