RUDI 2 - Interview mit Professor Wolfram Weiße

Warum ist das Thema „heilig“ im Religionsunterricht wichtig?

Professor Wolfram Weiße hat Studierende an der Universität Hamburg zu Religionslehrer*innen ausgebildet. Auch die Autoren dieses Heftes haben bei ihm, ihrem Lehrer, studiert und gelernt.

Herr Weiße, was bedeutet eigentlich „heilig“. Was ist der Unterschied von „heilig" und „ganz besonders wichtig“?

Heilig ist etwas, was ohne Einschränkung als zentral wichtig erfahren wird, das größer ist als das eigene Ich, als die eigene Familie, die eigene Herkunft, ja selbst als die eigene Religionsgemeinschaft. Gott ist größer, als dass er von uns umfasst und „eingefangen“ werden kann. Und so ist es auch mit dem, was heilig genannt werden kann.
Heilig umschließt das, was wir als „ganz besonders wichtig“ ansehen und mit Argumenten begründen können. Aber es geht darüber hinaus, es ist etwas ganz und gar Faszinierendes, es zieht mich in seinen Bann, es ist Erfüllung, es entspricht meiner Sehnsucht – und gleichzeitig erschauere ich vor dem Heiligen, weil es nicht in meiner Verfügung steht, weil ich es nicht berechnen kann, weil ich es nicht definieren kann. Heilig ist etwas, das für mich ohne Einschränkung im Zentrum steht, das größer ist als mein Herz – und das nicht wirklich definiert werden kann. Insofern ist es beides: Von größter Wichtigkeit für mich und gleichzeitig nicht auf den Punkt zu bringen, eher mystisch.
Der Religionswissenschaftler Rudolf Otto beschrieb in seinem Buch „Das Heilige“ schon vor 100 Jahren die rational nicht fassbare Erfahrung des Heiligen, die sich in zwei Momenten äußert. Zum einen wirkt das, was Gott bedeuten könnte, auf den Menschen als etwas Faszinierendes, In-den-Bann-Ziehendes – Otto nannte es das „Mysterium fascinans“. Zum anderen kann es den Menschen erzittern, erschaudern lassen, das nennt er „Mysterium tremendum“. Diese zwei Pole zeigen das Spannungsverhältnis, in dem sich die Erfahrung des Heiligen bewegt.
Ein Abglanz dessen, was heilig ist, kann sich auch im Menschen spiegeln. Heilig ist also auch ein Beziehungsbegriff, und er ist nicht statisch. Der Mensch oder eine Glaubensgemeinschaft ist nicht ein für allemal heilig und kann dann machen, was sie will. Vielmehr ist die Beziehung zu anderen mit einem Anspruch Gottes an den Menschen und ihr Verhalten verbunden.

Mal ganz persönlich gefragt: Was ist Ihnen heilig?

Heilig ist für mich der liebende, barmherzige, mich bergende, mich auch fordernde und beunruhigende Gott. Er ist für mich nicht zu fassen und bildet doch den Urgrund meines Vertrauens ins Leben, bildet das Fundament für meine Überzeugung, dass die Nächstenliebe zentral ist, dass ich nicht zu kurz komme, wenn die Nächstenliebe mir sagt, dass ich mich nicht überall durchsetzen muss, dass ich nicht durch andere eingeengt werde, sondern im Gegenteil: Durch meine christliche Tradition und durch Austausch und Begegnung mit Menschen und deren Traditionen im Buddhismus, Hinduismus, Judentum, Islam und Alevitentum weiß ich, dass die Nächstenliebe unabdingbar für die Gottesliebe ist. Das, was mir heilig ist, trägt mich in meinem Leben. Ich kann und möchte es nicht eingeschränkt oder beschädigt wissen – und ich kann und möchte ebenso nicht, dass das, was anderen heilig ist, eingeschränkt oder beschädigt wird.  Und was ist mit Menschen ohne Glaubenszugehörigkeit?  Ich denke, dass auch diesen etwas „heilig“ sein kann, etwas, an das sie fest und unabdingbar glauben, wofür sie einstehen, was ihnen Hoffnung gibt, ohne dass sie letztendlich darüber verfügen können.

Gibt es auch „Unheiliges“?

Ja, es gibt auch „Unheiliges“. Das ist der ganze Bereich der Unmenschlichkeit, der Gewalt, die anderen angetan wird, das Bewusstsein, nur an sich selber zu denken, koste es, was es wolle, nur die eigenen Interessen zu sehen und andere beiseite zu schieben, zu unterdrücken, zu ermorden. Unmenschlichkeit rechnet nicht damit, dass es etwas über das eigene Ich hinaus gehende geben könnte, ignoriert die Gottesebenbildlichkeit aller Menschen, schadet nicht nur anderen Menschen, sondern bricht auch der eigenen Menschlichkeit das Rückgrat und leugnet Gott.

Warum sagt man: „Der Zweck heiligt die Mittel“… und … gefällt Ihnen das Sprichwort?

Wenn Menschen nur noch zweckbestimmt denken und handeln, dann verengt sich ihr Horizont. Dann gibt es eine Tendenz, dass alles andere – und alle anderen – außer dem, was grade abgezweckt wird, nichts gilt. „Der Zweck heiligt die Mittel“ ist Ausdrucks eines armseligen Missbrauchs von dem, was „heilig“ genannt werden kann. Wenn ich für einen Zweck, den ich festlege – auch einem Zweck, der mir für andere als wichtig erscheint –, alle zur Verfügung stehenden Mittel einsetze, dann wird damit oft Gewalt und Terror legitimiert. Damit wird leicht überdeckt, dass unheilige Mittel einen Zweck rechtfertigen sollen. Das ist oft der Anfang vom Ende menschlichen Handelns.

Warum ist aus Ihrer Sicht das Thema „heilig“ im Religionsunterricht wichtig?

Das Wort „heilig“ taucht sowohl in der religiösen wie in der Alltagswelt auf. Es erscheint als wichtig, dass Schülerinnen und Schüler mit dem umgehen und Vorstellungen davon entwickeln können, was für sie selber und für andere „heilig“ heißen könnte. Dieses Thema kann grade mit einer religiös und weltanschaulich heterogenen Gruppe aufgenommen werden. Dazu drei Gedanken:

  1. Heiliges gibt es in allen Religionen: Das Heilige, das sich als etwas Besonderes und Verehrungswürdiges ausdrückt, finden wir in allen Weltreligionen. Die Verehrung kann sehr unterschiedlich aussehen. Dies gilt auch schon in den abrahamischen Religionen Judentum, Christentum und Islam. Und selbst innerhalb von Religionen, beispielsweise im Christentum gibt es Unterschiede: Im orthodoxen  Christentum werden Heiligenbilder verehrt –  die Ikonen. Heilige Personen wurden im Christentum besonders im Mittelalter verehrt. Luther und andere Reformatoren forderten dagegen, die Heiligen dürften keinen höheren Stellenwert bekommen als Gott und Jesus selbst. Die katholische Kirche legte später fest, dass die Heiliggesprochenen zwar eine besondere Nähe zu Gott auszeichnet, aber sie dennoch Menschen bleiben. Auch im Buddhismus gibt es das Bewusstsein des Besonderen, dort werden ebenso wie in der katholischen Kirche Reliquien verehrt. Im Hinduismus drückt sich das Heilige auch im furchterregenden Moment aus, etwa mit der Göttin der Zerstörung, die wieder etwas Neues ermöglicht. Im Alevitentum gilt alles, worin sich Gottes Kraft zeigt, als heilig, das kann in der Natur sein, aber vor allem im Menschen.
  2. Lebensweltliche Bedeutung: Es ist bedeutsam, dass ein Begriff, der in der Religion eine zentrale Bedeutung hat, eine Transformation ins Säkulare, ins Weltliche, erfahren hat. Dies zeigt, dass man auch ohne religiöse Bindung eine Vorstellung davon hat, was im Religiösen gemeint ist, und das auf die persönliche Erfahrung überträgt. Wenn man sich fragt: „Was ist mir heilig?“, dann heißt das, was ist für mich unverfügbar, was ist für mich so zentral, dass ich ohne Abstriche dafür einstehDie Aussage „das ist mir heilig“ kann von Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichem religiösem und weltanschaulichem Hintergrund genutzt werden. Was meinen sie damit? Das Überlegen und der Austausch darüber kann einen guter Startpunkt für den Unterricht bilden Hierbei sollte das Verständnis von „heilig“ in einem ersten Schritt nicht auf religiöse Vorstellungen eingeengt werden sollte. In einem zweiten Schritt würden dann aber religiöse Traditionen und gegenwärtige Bedeutungen aufgenommen werden. Hierbei sollten die Schülerinnen und Schüler sich wechselseitig austauschen, aber auch die Lehrerin / den Lehrer nach ihrem / seinem Verständnis frage können.
    Didaktisch könnten unterschiedliche Wege beschritten werden. Zum Beispiel wäre an vorliegende Entwürfe für eine Didaktik heiliger Räume anzuknüpfen. Gleichzeitig gilt es, das Missverständnis zu vermeiden, dass das, was heilig ist, mit religiösen Bauten gleichgesetzt werden kann. Aber: Kirchen und andere religiöse Stätten sind insofern heilig, als sie einen besonderen Raum für die Erfahrung des Heiligen bieten.  Heilig bleiben religiöse Bauten nur, solange Menschen sie als einen Ort für die Anbetung Gottes, für ihr religiöses Erleben und ihre religiöse Praxis nutzen. Wenn die Leute ausbleiben, dann bleiben sie nicht heilig, dann könne sie anderen Religionsgemeinschaften übereignet oder – falls die Gefahr besteht, dass daraus Supermärkte oder Spielhallen werden – auch abgerissen werden.
  3. Lernen in Begegnung und Dialog: An der Behandlung des Themas „heilig“ lässt sich beispielshaft zeigen, wie gut die Möglichkeiten eines dialogorientierten Lernens für Kernthemen des Religionsunterrichts sind. Die folgenden Elemente mögen dies illustrieren:

Die SuS können ihr eigenes, lebensweltliches Vorverständnis zum Thema formulieren. Dabei merken sie sehr schnell, dass es lohnt, über den Begriff zu sprechen, zumal es gemeinsame und unterschiedliche Verständnisse von „heilig“ in der Schülerschaft gibt. Eine derartige Vielfalt kann im Unterricht zu Fragestellungen führen, die für SuS interessanter ist, als wenn dieser Begriff nur im Blick auf eine Religion untersucht wird.

Die Frage nach dem Heiligen wird zu Rückfragen an die Lehrerin / den Lehrer führen. Wenn die Schülerinnen und Schüler ihre eigene, vorläufige Meinung zum Thema sagen und damit ins Gespräch kommen, sollten sie auch die Möglichkeit bekommen, den Lehrer / die Lehrerin auf sein / ihr ganz persönliches Verständnis zu befragen. Hier ist nicht ein blitzgescheites Referat der Lehrperson gefragt, sondern ein Position, bei der für SuS gerne auch deutlich werden kann, dass selbst beim Lehrer / bei der Lehrerin kein vollständiges Erfassen dieses Begriffes möglich ist. Damit wird das Gespräch im Klassenzimmer nicht abgeschlossen, sondern mit einem Impuls für weiteres Nachdenken versehen.

Das offene Gespräch mit einer Begegnung verschiedener Standpunkte und Akzente führt zu Fragen, die nicht mehr im Austausch miteinander, sondern mit Rückgriff auch weitere Quellen genutzt werden kann. SuS können dabei selber auf die Suche gehen – z.B. den Pastor/ die Pastorin, den Imam/ die Imamin etc. – befragen, aber hier ist auch besonders die Lehrerin / der Lehrer gefragt. Texte aus unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen können in die Lernprozesse der Klasse eingeführt und diskutiert werden.

Kurz: Bei allen Unterschieden gibt es in den großen Religionen Gemeinsamkeiten, die es als angemessen erscheinen lassen, zentrale Vorstellungen, wie sie bei „heilig“ vorliegen, nicht nur im Blick auf eine religiöse Tradition (mitsamt ihrer binnenreligiösen Vielfalt) kennenzulernen, sondern sie mit anderen Traditionen in Verbindung aufzuschlüsseln. Vor diesem Hintergrund ist es theologisch legitim, religiöse Kernthemen im größeren Zusammenhang verschiedener Religionen zu analysieren, und didaktisch vielversprechend, derartige Themen unter Berücksichtigung unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Positionen im Klassenzimmer zu behandeln, dabei dem Austausch zwischen SuS, sowie auch den zwischen SuS und Lehrerin / Lehrer als wichtigen Impuls für Lernprozesse Raum zu geben, eine Chance, religiöse Positionen im Überschneidungsfeld von Tradition und Lebenswelt als relevante und interessante Themen eines lebendigen Unterrichts zu entwickeln.